Verteidigung der Lieder in der Kirche - von Wilko Ossoba

„Befiehl du deine Wege / und was dein Herze kränkt / der allertreusten Pflege / des, der den Himmel lenkt / der Wolken, Luft und Wasser / gibt Wege, Lauf und Bahn / der wird auch Wege finden / da dein Fuß gehen kann.“ Wer – wenn er guten Willens ist – kann sich diesen einfachen und dabei schönen Worten entziehen, wenn er Not und Einsamkeit kennengelernt hat und weiß, wie nötig manchmal Trost ist?

Die Worte sind nicht die der Alltagssprache. Ihr Klang, die Reime, ihre Melodie lassen sich abheben von der Sprache, die wir sonst tagein, tagaus hören, lesen, selber sprechen. Zusammen mit den Tönen, mit denen sie fast untrennbar verschmolzen sind, bilden sie eines der schönsten Lieder, das in unseren Gottesdiensten gesungen wird.

Solch ein Lied muss nicht, aber kann in unser Herz dringen und uns ein bisschen von dem Nötigsten im Leben geben. Warum soll man nicht versuchen zu ergründen – so gut es geht -, was dieses und andere Lieder so wirkungsvoll macht (wenn man sie denn bei sich wirken lässt)?

Warum sollte ich nicht versuchen zu erklären, was diese Lieder so eindringlich macht, wenn ich doch weiß, dass nur wenige Menschen sich des Schatzes in unseren Gesangbüchern bewusst sind? Wo ich weiß, dass viele gedankenlos und stumpf diese Lieder nur deshalb missverstehen oder gar ablehnen, weil sie alt sind und nicht immer leicht zugänglich wie eine Zeitungskolumne? Sollte ich diese Lieder nicht verteidigen, weil ich weiß, was in ihnen ruht, und weil sie mir lieb und teuer sind?

Im Märchen scheint es uns selbstverständlich, dass man Mühen auf sich nehmen muss, um das Wasser des Lebens nach Hause zu tragen. Kaum jemand zweifelt daran, dass im Alltag Schule, Lehre, Studium, Beruf zu Recht Voraussetzung für das regelmäßige Monatseinkommen sind. Wer gute Speisen genießen will, muss sich mit dem Kochen beschäftigen, wer seine portugiesische Geliebte verstehen will, muss ihre Sprache lernen, wer Fußball spielen möchte, kommt nicht ums Training herum.

Wem die Lieder der Kirche ihre Kraft schenken sollen, muss sich um sie bemühen, das heißt: sie lesen, spielen und vor allem singen. Er sollte ihnen vertrauensvoll entgegenkommen und nicht vorschnell jede Wendung bekritteln, die beim ersten Hinsehen seinem angewöhnten „Tunnelblick“ missfällt. Es ist nicht abwegig, die Lieder lieben zu lernen und damit befremdende Elemente in ihnen zu tolerieren. Sonst werden sie, wie manches Kulturgut, unwillkürlich ein Opfer unserer angeborenen, bequemen Fremdenfeindlichkeit.

Ich erkläre also dem Verstand und hoffe, dass ich auf wohlmeinende Herzen stoße: Es gibt musikalische, dichterische und inhaltliche Gründe, ein Lied im Gottesdienst zu verwenden. Die besten Kirchenlieder sind in einem doppelten Sinne religiös, da sie nicht nur Bestandteil des christlichen Kultes, sondern auch als künstlerischer Ausdruck von Menschen in einer allgemeinen, jedem Menschen eigenen Religiosität wurzeln. Durch diese künstlerische Qualität setzen sie sich von bloßen „Gebrauchsliedern“ ab, die nur selten und unter besonderen Voraussetzungen einmal die Seele der Menschen erreichen können. Das heißt aber selbstverständlich nicht, dass im Gottesdienst nicht auch jede andere Art von religiöser Musik ihren Platz hat.

In musikalischer Hinsicht bilden diese Lieder einen Melodienbestand, der für die Sänger und Sängerinnen aller Altersstufen interessant und anregend genug ist, um ihn immer weiter zu pflegen. Dies betrifft sowohl die rhythmische, wie auch die melodische Struktur der Lieder. Wegen dieser einprägsamen und unverwechselbaren musikalischen Gestalt der Lieder sind ihnen von den besten kirchenmusikalisch tätigen Komponisten der letzten Jahrhunderte die weitaus meisten Choralbearbeitungen gewidmet worden. Zum Verständnis dieser Kirchenmusik im engsten Sinne sind sie unverzichtbar.

Einprägsamkeit von sprachlichen Wendungen und Bildern ebenso wie Rhythmus und Klang der Worte machen die Güte vieler Texte im Gesangbuch aus. Diese dichterischen Qualitäten geistlicher, gesungener Poesie, vorgebildet für alle Zeiten in der Dichtungssammlung des Alten Testaments, dem Psalter, machen sie zu einer Schule für jede Art von künstlerischen Umgang mit der Sprache in unserer Gesellschaft. Eine Möglichkeit, die sprachliche Qualität eines Textes zu prüfen, ist es etwa, ihn in kleinen oder größeren Einheiten zu verändern. Texte, die dabei keine Einbußen an Gestalt oder Gehalt erleiden, sind sicher nicht von sehr hohem künstlerischem Wert.

Der theologische Inhalt der Texte sollte bei den Liedern in Einklang mit den allgemein anerkannten Lehren der evangelisch-lutherischen Kirche stehen. Allerdings zeichnet sich hier in unserer Zeit eine Öffnung der kirchlichen Dogmatik ab, die kurz bis vor die Beliebigkeit von Glaubensinhalten reicht. Daher ist dieses Kriterium augenblicklich nahezu irrelevant. Geschwächt wird seine Bedeutung zusätzlich dadurch, dass das ureigene Gebiet der Theologie in den Gottesdiensten im engeren Sinne das der gesprochenen Texte ist.

Dass weder die künstlerisch-religiöse noch die inhaltliche Komponente eines Liedes beim Singen dem Verstand völlig deutlich sein kann, wird oft bemängelt. Diese Anforderung besteht jedoch zu Unrecht und versucht einen weiteren Aspekt lutherischen Gottesdienstes zu einer Verstandessache zu erklären, ein Versuch, der dem Willen zumindest des Stifters dieser Konfession zuwiderläuft. Diejenige Zeit, die bewusst den gesamten Kultus auf rationale Basis stellen wollte, die Aufklärung des 18. Jahrhunderts, hat auch die schlechtesten – und daher größtenteils vergessenen - Lieder und Liedertexte verfertigt.

Schließlich: Es ist kein Zufall, dass das Griechische auch im westlichen Teil des Römischen Reichs lange Zeit Sprache des Kultes blieb, dass ebenso das Lateinische auch nach Erstarken der Volkssprachen lange Zeit diese Funktion einnahm, dass die Tracht der evangelischen Pastoren früheren Jahrhunderten verhaftet bleibt, dass die Mehrzahl der gedruckten Bibeln in Deutschland auch weiterhin die Sprache Luthers enthalten, dass fast jede Handlung im Gottesdienst eine Geschichte länger als ein Jahrtausend aufzuweisen hat. Entscheidend ist dabei nicht das Alter solcher Bestandteile christlicher Religion, sondern die Tatsache, dass offenbar eine dem Alltag enthobene, andersartige, dabei aber auf Traditionen gebaute Sphäre im Gottesdienst gefragt und erwünscht ist. Auch das evangelische Liedgut war zum Teil schon vor dreihundert Jahren unmodern. Einige Lieder haben aber bis heute lebendig überlebt, weil sie unsere Religion mittragen und unser Leben reicher machen. Es besteht daher kein Anlass, sie plötzlich ängstlich durch schlechte Melodien mit schlechten Texten und oft fragwürdiger oder gar nicht vorhandener Theologie zu ersetzen.

Jede Generation muss von neuem das Überkommene prüfen. Was man prüfen will, muss man zuerst einmal bewusst in seiner Eigenart wahrnahmen. Wenn aber nicht mehr die Möglichkeit besteht, es in seiner ganzen Wirksamkeit kennenzulernen, verliert unsere Generation für sich wahrscheinlich ein Erbe, das sie vermissen wird.

Unsere eingebildete Vorurteilslosigkeit, die in Wirklichkeit nur die Vorurteile auf andere Felder verlagert (z.B. die Kirche), wäre gut beraten, bescheiden in der Welt herumzuhören, ohne gleich zu urteilen. „Sing, bet und geh auf Gottes Wegen, verricht das deine nur getreu / und trau des Himmels reichem Segen / so wird er in dir werden neu / denn welcher seine Zuversicht / auf Gott setzt, den verlässt er nicht.“

Wilko Ossoba, 1995



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